„Sich selbst begegnen“ ist inzwischen eine oft verwendete Redewendung. Dahinter steckt ein komplexer Prozess, der je nach Herangehensweise unterschiedliche Richtungen annehmen kann. Das Wort „selbst“ nimmt hier eine zentrale Stellung ein. Als erstes wollen wir uns das „Selbst“ mit großem S anschauen. Carl Gustav Jung (Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie) hat das Selbst wie folg definiert:
Selbst = Ich + Schatten
Das Selbst beschreibt hierbei unsere natürliche Essenz, die alle Eigenschaften von uns enthält, mit denen wir geboren werden. In diesem Zustand sind wir heil oder auch ganz. Wenn wir also beiläufig von heil werden sprechen, dann steckt dahinter der natürliche Wunsch, in diesen Zustand der Ganzheit zurückzukehren. Denn nur so können wir die Spannungen in unserem Leben auflösen, die meistens die Gründe für Konflikte und Krankheiten sind.
Das Ich wird zu einem großen Teil von unserem Ego beherrscht. Hier ist alles Zuhause, was wir bewusst sein wollen (weil wir vermeintlich so akzeptiert werden). Wir packen hier unsere „guten“ Eigenschaften rein.
Im Schatten haben wir alles, was uns unbewusst ist. Dort hin haben wir die „schlechten“ Eigenschaften verdrängt, die wir nicht haben wollen (weil wir damit vermeintlich nicht akzeptiert werden würden).
Das Ich beinhaltet alles Bewusste und wird vom Ego dominiert. Zwar werden hier auch uns bewusste Schwächen oder Persönlichkeitsanteile zugeordnet, die aber nicht nach außen gezeigt werden. Der Größte Teil dieses Ich-Bereichs unserer Psyche wird vom persönlichen Ich-Ideal geprägt.
In unserer Beziehung zur Außenwelt streben wir automatisch an, uns so vorteilhaft wie möglich zu zeigen, damit wir z. B. geliebt werden und beliebt sind. In der Psychologie wird daher auch der Begriff des Marketingcharakters verwendet. Wir erscheinen also als „der Durchhalteknaller“, „die sich für alle aufopfernde Mutter“, „der allwissende Vater“ oder „der immer verständnisvolle Partner“. Viele Menschen entwickeln hieraus ein extremes Perfektionsstreben, um dieser selbstgeschaffenen Außenansicht in jeglicher Hinsicht gerecht zu werden.
Wie unser Ich sein will, das hängt zu einem Großteil der Erfahrungen ab, die wir bereits in der frühen Kindheit gemacht haben. Wir streben als Kinder nach Liebe und Aufmerksamkeit von unseren Mitmenschen, mit denen wir aufwachsen. Naturgemäß wollen wir das vor allem von unseren Eltern. Die Wege, wie wir das am besten erreichen konnten, haben sich in unserem Ich manifestiert und prägen nun maßgeblich unseren Charakter. Die Persönlichkeitsmerkmale, die wir gezeigt haben, aber zu Ablehnung und Schmerz geführt haben, wurden in den Schatten verdrängt und sind damit unbewusst.
Der Schatten ist ein Bereich unserer Psyche, der all diejenigen Persönlichkeitsanteile von uns enthält, die nicht mit unseren eigenen Idealvorstellungen von uns selbst zu vereinbaren sind. Wir grenzen uns derart intensiv von den „wohlwollenden“ und „willkommenen“ Eigenschaften aus dem Ich ab, dass wir mit dem Schatten einen Bereich selbst generiert haben, der voller Gedanken, Gefühle, Emotionen und Impulse ist. Diese empfinden wir als zu schmerzvoll, schrecklich und mindestens unangenehm, um sie annehmen zu können. Sie werden von uns unterdrückt, abgelehnt und verdrängt.
Als Kind sind wir in mehrfacher Hinsicht von unseren Eltern abhängig. Wir brauchen Aufmerksamkeit, Liebe, Nahrung, ein Obdach, um nur die wichtigsten zu nennen. Instinktiv lernen wir dann recht schnell, wie wir diese natürlichen Grundbedürfnisse am besten befriedigt bekommen. Vor allem Aufmerksamkeit spielt hier eine sehr wichtige Rolle. Wenn wir gelobt oder ausgeschimpft werden – beides bedient den Aufmerksamkeitsaspekt – überleben wir. Aber ein kleines Kind, welches zu 100 Prozent ignoriert wird, stirbt.
Der Schattenaufbau wird also schon recht frühzeitig begonnen. Schon als sehr kleine Kinder lernen wir die ersten Regeln und Gebote von unseren Eltern, Erziehern und Freunden. Wir passen uns an und übernehmen sogar oft einen Großteil ihrer Vorstellungen aus Angst abgelehnt zu werden. Sätze und Sprüche forcieren z. B. die Bildung von Glaubenssätzen, die uns dann ein Leben lang begleiten und uns daran hindern, in unsere eigene Kraft zu kommen. Die sind beispielsweise „Das schaffst du nie“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Hab dich nicht so“. Unsere ursprüngliche Intelligenz bzw. unsere Einfühlsamkeit und Feinfühligkeit werden z. B. durch die genannten Sprüche in den Schatten geschoben. All das bleibt nicht ohne Auswirkungen. Es entstehen Spannungen zwischen unserem natürlichen Sein mit all seinen Persönlichkeitsanteilen und dem „gewollten“ Sein, wie wir uns dann in der Außenwelt geben. Die Schattenanteile drängen danach, wieder integriert und akzeptiert zu werden. Dies äußert sich unter anderem durch sogenannte Projektionen. Wir projizieren wie ein Diaprojektor unsere eigenen Themen auf andere Menschen oder Situationen. Es reizt uns dann, wenn andere so sind, wie wir es uns verbieten. Es kommt dann zu Konflikten, weil wir uns Gegner und Konkurrenten schaffen, wo keine sind. Gerade im Berufsleben und in Partnerschaften erleben wir diese unangenehmen Situationen sehr oft und intensiv, weil wir hier wiederkehrenden Konfliktmustern ausgesetzt sind.
Und genau hier befindet sich unser größtes Wachstumspotenzial. Wenn es uns gelingt, die Schattenanteile wieder zu integrieren respektive zu uns ins Bewusstsein zu nehmen, dann werden die Spannungen geringer. Das heißt nicht, dass wir unbedingt nun unsere bislang unbewusst unbeliebten Persönlichkeitsanteile exzessiv ausleben sollen, sondern es ist wichtig, sie zu akzeptieren. Dass sie ein fester Teil von uns sind, das war schon immer so, sie waren lediglich verdrängt. Viele dieser reintegrierten Persönlichkeitsanteile bringen sehr viel Energie zu uns zurück, die uns bislang verschlossen blieb.
Sprich uns gern an, wenn du mehr darüber erfahren willst.